Journal

22.08.2017

VK Westfalen: Ausschreibung darf Bieter nicht zum Monopolisten machen.

Eine Direktvergabe zur Erbringung von Dienstleistungen zur Beförderung von Fahrgästen im  Schienenpersonenverkehr verstößt gegen das Vergaberecht, wenn der Auftraggeber nur eine bestimmte "Taktlage" ausschreibt ohne zu überprüfen, ob auch Alternativlösungen (z. B. andere "Taktlagen") in Betracht kommen. Der Auftraggeber hat zu überprüfen, ob die Möglichkeit besteht, verkehrlich abweichende Lösungen zu entwickeln. Die Vergabekammer (VK) Westfalen setzt dem Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers mit Beschluss vom 25.1.2017 (VK 1-47/16) enge Grenzen.

Damit liegt die erste Entscheidung zu einem den Schienenverkehr betreffenden Thema vor: Die Anerkennung von Fahrausweisen des Nahverkehrs in Zügen des Fernverkehrs.

Der Sachverhalt

Für Fahrgäste erscheint es auf den ersten Blick attraktiv, mit Nahverkehrsfahrausweisen Fernverkehrszüge (IC, EC, ICE) nutzen zu können. Aufgabenträger im Nahverkehr können ein Interesse daran haben, um die Attraktivität des Nahverkehrs insgesamt zu steigern. Auf bestimmten Strecken kann statt der (teureren) Bestellung von Nahverkehrsleistungen ein (geringerer) Ausgleich für die Anerkennung der Nahverkehrsausweise in den Fernverkehrszügen geleistet werden.

Für den Fernverkehrsanbieter kann sich die Wirtschaftlichkeit des Fernverkehrs erhöhen, wenn für die Anerkennung der Nahverkehrsfahrkarten ein entsprechender Ausgleich gezahlt wird.

Wegen der Auswirkungen auf den Nahverkehrsmarkt werden derartige Tarifanerkennungen, die regelmäßig gegen Gewährung einer Ausgleichsleistung erfolgen, zum Teil stark kritisiert. Gelder, die den Bundesländern zur Finanzierung des Nahverkehrs zur Verfügung stehen, fließen einem Fernverkehrsunternehmen – faktisch dem Quasi-Monopolisten DB Fernverkehr AG – zu und stehen zur Finanzierung des Nahverkehrs im engeren Sinn nicht zur Verfügung. Der Wettbewerb im Nahverkehr werde dadurch verringert, so die Gegner des Modells.

Die Verantwortlichkeiten für den Öffentlichen Personennahverkehr und den Fernverkehr auf der Schiene sind getrennt. Während die nach Landesrecht bestimmten Aufgabenträger für die Organisation des Nahverkehrs zuständig sind, wird der Fernverkehr eigenwirtschaftlich durch die DB Fernverkehr AG betrieben.

Nahverkehr ist u.a. nach § 1 des Regionalisierungsgesetzes (RegG) und § 2 Abs. 5 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) die Beförderung von Personen mit Verkehrsmitteln im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen.

Nahverkehr liegt im Zweifel vor, wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle eines Verkehrsmittels der gesamte Reiseweg 50 km oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht überschreitet.

Im konkreten Fall entschieden die Aufgabenträger im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), die Anerkennung von Nahverkehrstarifen im Personenverkehr im Wege einer Direktvergabe vertraglich mit dem Betreiber einer IC-Linie zu regeln. Sie veröffentlichten dazu eine Vorinformation nach der VO (EG) Nr. 1370/2007 im EU-Amtsblatt.

Ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, das auf der gleichen Strecke im Auftrag der Aufgabenträger Regionalverkehrslinien betreibt, griff die Direktvergabe mit einem Nachprüfungsantrag an.

Die Entscheidung

Mit Erfolg. Die VK Westfalen gab dem Nachprüfungsantrag statt.

Die Vergabekammer bejaht ohne weiteres das Vorliegen eines öffentlichen Auftrages: Inhalt des Vertrages sei die Dienstleistung „Beförderung von Fahrgästen mit Zügen“.

Entgegen der Auffassung der Aufgabenträger stehe der Antragsbefugnis hier nicht entgegen, dass bisher keine Vergabebekanntmachung vorliege, sondern lediglich eine Vorinformation gemäß Art. 7 Abs. 2 VO (EG) 1370/2007 über die Absicht einer Direktvergabe im Amtsblatt der EU veröffentlicht worden sei. Die Vorinformation gemäß Art. 7 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1370/2007 markiere den Beginn des Vergabeverfahrens und reiche zur Begründung der Antragsbefugnis im Nachprüfungsverfahren aus.

Die Voraussetzungen für ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb und damit einer Direktvergabe an den Fernverkehrsanbieter seien nicht gegeben, so die Vergabekammer. Es liege keine alternativlose technische Besonderheit vor, die eine ausschließliche Vergabe an die Betreiberin der IC-Linien erfordere.

Das Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers unterliege Grenzen. Die Bestimmung des Auftragsgegenstands müsse sachlich gerechtfertigt sein. Die Nutzung der Zugtrassen sei grundsätzlich auch durch andere Unternehmen möglich.

Die Bezugnahme der Aufgabenträger auf einen bestimmten Takt und eine bestimmte Abfahrtszeit, die diese mit der Merkbarkeit und der Anschlusssicherung begründet hatten, vermochten die Vergabekammer nicht von der Alternativlosigkeit zu überzeugen.

Das tatsächliche Besetzen einer Trasse durch die DB Fernverkehr AG ist nach Auffassung der Vergabekammer kein ausschließliches Recht, das den Ausnahmetatbestand des § 14 Abs. 2 Buchstabe c der Vergabeverordnung (VgV) erfüllt.

Die Aufgabenträger und die DB Fernverkehr AG hätten auf die Rahmenbedingungen verwiesen, die aus ihrer Sicht zu einer "Monopolstellung" der DB Fernverkehr AG in Bezug auf die konkret nachgefragten Leistungen führen würden. Solche Rahmenbedingungen könnten aber nur dann als Grund im Sinne von § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV in Verbindung mit Art. 32 Abs. 2 lit. 2 b) RL 2014/24/EU akzeptiert werden, wenn es keine vernünftigen Alternativen gebe und auch im Übrigen nicht der Eindruck entsteht, dass hier künstlich bestimmte Auftragsparameter bestimmt würden, um gezielt nur ein Unternehmen beauftragen zu können.

Der wesentliche Gesichtspunkt sei, betont die Kammer, ob der öffentliche Auftraggeber eigentlich erst durch die Vorgabe seiner Rahmenbedingungen bzw. Nennung der Auftragsvergabeparameter ein bestimmtes Unternehmen zu einem Monopolisten mache. Genau das lasse sich mit § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV nicht rechtfertigen. Insofern reichten die von den Aufgabenträgern vorgetragenen Begründungen hier nicht aus.

Die Aufgabenträger hätten nicht ausreichend geprüft, wie sich Taktverschiebungen auf die Umsteigezeiten und das Kundenverhalten auswirken.

Das von den Aufgabenträgern herangezogene Argument der Merkbarkeit, Fahrgäste könnten sich die jeweils gleichen Abfahrzeiten (z.B. immer um sechs Minuten nach der vollen Stunde) eher merken, könne im konkreten Fall schon deshalb nicht greifen, weil auch die Abfahrtszeiten der Regionalverkehre und der IC-Linie jeweils um wenige Minuten auseinanderlagen.

Die ebenfalls aufgeworfenen haushaltsrechtlichen und kompetenzrechtlichen Gesichtspunkte klärt die Vergabekammer vergleichsweise kurz und stellt im Ergebnis klar:

  • Die haushaltsrechtlichen Vorschriften erlangten regelmäßig keine Geltung nach außen und seien einer Überprüfung im Nachprüfungsverfahren nicht zugänglich.
  • Eine Zweckentfremdung der Mittel, die den Ländern nach dem Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs aus dem Steueraufkommen des Bundes zukommen, erkennt die Vergabekammer ebenfalls nicht.

Der öffentliche Personennahverkehr dient gemäß § 2 RegG der allgemein zugänglichen Beförderung von Personen mit Verkehrsmitteln im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen. Dies ist im Zweifel der Fall, wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle die gesamte Reiseweite 50 km oder gesamte Reisezeit eine Stunde nicht übersteigt. Diese Definition sei funktional zu verstehen, so die Kammer. Insofern könne die Subventionierung von Nahverkehrstickets im IC keine Zweckentfremdung darstellen, wenn die Anerkennung ausdrücklich auf ausgewiesenen Streckenabschnitten des Nahverkehrs erfolgt.

Im Ergebnis verpflichtet die Kammer, die Aufgabenträger bei Fortbestehen der Beschaffungsabsicht, Leistungen im Schienenpersonennahverkehr im Wege eines formellen europaweiten Vergabeverfahrens nach dem 4. Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) auszuschreiben.

Praxishinweise

Die Entscheidung der Vergabekammer ist inzwischen bestandskräftig geworden. Für die Protagonisten im Nah- und Fernverkehr hat die Entscheidung unabhängig davon, ob sie das Modell der Tarifanerkennung und die sich daraus ergebenden Zwitterzüge befürworten oder nicht, positive und negative Aspekte.

Die Ausführungen der Vergabekammer zu den haushalts- und kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten können aktuell für die Begründung der grundsätzlichen Zulässigkeit des rechtlich und wettbewerbspolitisch umstrittenen Modells „Zwitterzüge“ herangezogen werden. Ob dies bei einer Überprüfung durch Gerichte Bestand hätte, ist offen.

Nach der Entscheidung der Vergabekammer dürften eine Direktvergabe und der Abschluss eines (Dienstleistungs-)Vertrages über die Tarifanerkennung zwischen Aufgabenträger und Fernverkehrsunternehmen ohne Vergabeverfahren schwer zu rechtfertigen sein.

Aufgabenträger sind daher gut beraten, ein Vergabeverfahren durchzuführen, bei dem besonderes Augenmerk darauf gerichtet wird, etwaige Vorgaben für die Verkehre nicht ausschließlich an bestehenden oder geplanten Verbindungen des größten Fernverkehrsanbieters zu orientieren.

Eine im Wettbewerb angebotene Ausgleichsleistung für eine Tarifanerkennung auf bestimmten Strecken könnte den (Fernverkehrs-) Markt möglicherweise sogar beleben. Ein Vergabeverfahren und der damit einhergehende zumindest mögliche Wettbewerb können außerdem beihilfenrechtliche Bedenken bezüglich der Höhe der Ausgleichsleistung verringern.

Grundsätzlich denkbar ist die Gewährung von Ausgleichsleistungen für Tarifanerkennungen als gemeinwirtschaftliche Verpflichtung auch auf Basis einer allgemeinen Vorschrift nach Art. 3 Abs.2 VO (EG) Nr. 1370/2007.

Eisenbahnrechtlich sind die Rechtsnatur einer allgemeinen Vorschrift nach deutschem Recht und die diskriminierungsfreie Umsetzung für alle öffentlichen Personenverkehrsdienste derselben Art in einem bestimmten geografischen Gebiet zu beachten.

Vergaberechtlich ist die Rechtsprechung zu den „Open-House“-Modellen (EuGH, Urteil vom 2.6.2016 – Rs. C-410/14, zuletzt VK Bund, Beschluss vom 6.2.2017 – VK 2 - 6/17) relevant.