23.12.2015
Der EuGH hat im Urteil vom 15.10.2015 (Rechtssache C-137/14) möglicherweise das Ende der verwaltungsrechtlichen Präklusion eingeläutet. Zudem nahm er mit Blick auf §§ 113 Abs. 1 VwGO, 46 VwVfG zum deutschen Konstrukt der Rechtsverletzung als Voraussetzung für die Angreifbarkeit von Rechtsakten Stellung. Außerdem waren die Übergangsvorschriften nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz Gegenstand der Entscheidung.
Anlass für das EuGH-Urteil war kein konkreter Rechtsstreit, sondern eine Rüge zahlreicher deutscher Rechtsvorschriften durch die EU-Kommission:
Die Kommission hatte gerügt, dass gemäß § 113 Abs. 1 VwGO die Anfechtungsklage nur insoweit erfolgreich ist, als der Kläger durch die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts in seinen Rechten verletzt ist. Der EuGH beanstandete dies nicht und verwies darauf, dass gemäß den Richtlinien 2011/92 und 2010/75 die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen Einzelner vom Erfordernis einer subjektiven Rechtsverletzung abhängig gemacht werden kann. Aus der Zurückweisung der Rüge folgt, dass der EuGH diese Voraussetzung auch für die Begründetheit der Klage nicht beanstandet. Konkrete Gründe hierfür nennt das Gericht nicht. Der EuGH stellt klar, dass das Erfordernis der Rechtsverletzung nicht auf Umweltverbände angewandt werden könne, weil dadurch die Ziele des Art. 10 a Abs. 3 S. 3 der Richtlinie 85/337 missachtet würden. Dieser Einschränkung trägt das deutsche Recht insbesondere durch die Einräumung subjektiver Rechte zugunsten von Umweltverbänden Rechnung.
Die Kommission hatte gerügt, dass eine fehlerhaft durchgeführte Umweltverträglichkeitsprüfung gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) nicht zur Aufhebung der Verwaltungsentscheidung führt, in deren Rahmen die UVP durchgeführt wurde. Deutschland hatte darauf verwiesen, dass trotz der genannten Vorschrift des UmwRG die Aufhebung der Verwaltungsentscheidung gemäß § 46 VwVfG verlangt werden kann. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes wegen Verfahrensfehlern nur dann nicht verlangt werden, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Deutschland reklamierte für sich, dass aufgrund dieser Vorschrift die Beweislast für die Kausalität zwischen Verfahrensfehler und materieller Sachentscheidung bei der Behörde liege, die die „Offensichtlichkeit“ beweisen müsse. Das war dem EuGH nicht klar genug, weshalb er der Rüge stattgab.
Den Bedenken des EuGH dürfte Deutschland jedoch mit dem am 26.11.2015 in Kraft getretenen § 4 Abs. 1 a UmwRG Rechnung getragen haben. Danach gilt insbesondere für den Fall der fehlerhaften Durchführung einer UVP: Lässt sich durch das Gericht nicht aufklären, ob ein Verfahrensfehler nach Satz 1 die Entscheidung in der Sache beeinflusst hat, wird eine Beeinflussung im Sinne von § 46 VwVfG vermutet.
Die Kommission hatte ihre zweite Rüge zudem auf das Argument gestützt, dass gemäß § 113 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 46 VwVfG die Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung, die mit einer fehlerhaft durchgeführten UVP belastet ist, nur verlangt werden kann, wenn dieser Verfahrensfehler ein subjektives Recht des Klägers verletzt. Unter Verweis auf seine Argumentation zur ersten Rüge verwarf der EuGH dieses Argument jedoch. Das Argument der Kommission dürfte jedoch bereits deshalb unbeachtlich sein, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes ein gemäß § 4 Abs. 1 UmwRG erheblicher Fehler zur Begründetheit der Klage führt, ohne dass es der Rechtsverletzung des Klägers bedarf. Das gilt auch für Kläger, die nicht Umweltverbände sind (Beschluss vom 27.06.2013, 4 B 37/12).
Mit ihrer 3. Rüge machte die Kommission geltend, dass die Präklusionsvorschriften des § 2 Abs. 3 des UmwRG und § 73 Abs. 4 VwVfG (Planfeststellungsverfahren) gegen Art. 11 der Richtlinie 2011/92 und Art. 25 des Richtlinie 2010/75 verstießen. Dem folgt der EuGH. Deutschland hatte zugunsten der Präklusionsvorschriften die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effizienz der verwaltungsbehördlichen und gerichtlichen Verfahren angeführt. Der EuGH verwies insoweit auf sein Urteil in der Rechtssache C-115/09, wonach die Beschränkung von Gründen, die mit einem gerichtlichen Rechtsbehelf geltend gemacht werden können, gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92 unzulässig sei. Es sei keinesfalls erwiesen, dass eine umfassende gerichtliche Kontrolle der sachlichen Richtigkeit der Entscheidung abträglich sein könnte. Allerdings könne der nationale Gesetzgeber Vorschriften vorsehen, nach denen ein missbräuchliches und unredliches Vorbringen unzulässig sei.
Mit der 4. und 5. Rüge hatte die Kommission beanstandet, dass für nach dem 25.06.2005 eingeleitete und vor dem 12.05.2011 abgeschlossene Verfahren die Klagebefugnis von Umweltverbänden nur bei Klagen gegeben sei, die auf subjektive Rechtsverletzungen gründeten. Deutschland hatte hiergegen das Argument der Rechtskraft eingewandt. Der EuGH lässt dieses Argument jedoch nur hinsichtlich rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen zu, nicht hinsichtlich (bestandskräftiger) Verwaltungsentscheidungen. Das wirft die Frage auf, wie in solchen Fällen das Verfahren wieder aufgegriffen werden kann (Wiedereinsetzung/Wiederaufnahmeklage?).
In der 6. Rüge erachtet der EuGH die ehemalige Übergangsvorschrift als europarechtswidrig, wonach Verfahren, die vor dem 25.06.2005 eingeleitet wurden, nicht unter das UmwRG fallen, auch wenn die Entscheidungen/Genehmi-gungen nach diesem Datum erteilt wurden. Dem hat der Gesetzgeber bereits durch die Neufassung des § 5 Abs. 1 Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes Rechnung getragen.
Handlungsbedarf besteht vor allem hinsichtlich der Präklusionsvorschriften. Für die von der Kommission geprüften §§ 2 Abs. 3 UmwRG und 73 Abs. 4 VwVfG dürfte Überarbeitungsbedarf bestehen. Für § 73 Abs. 4 VwVfG gilt das nur hinsichtlich Einwendungen, die sich auf die durch Art. 11 RL 2011/92 und Art. 25 RL 2010/75 geschützten (Umwelt-)Belange stützen. Das Gleiche dürfte für § 10 Abs. 3 S. 5 BImSchG gelten. Dem Vernehmen nach plant das BMUB aber auch die Streichung weiterer Präklusionsvorschriften, z. B. § 47 Abs. 2 a VwGO, wonach eine Normenkontrolle gegen einen Bebauungsplan unzulässig ist, wenn der Antragsteller nur Einwendungen macht, die er im Rahmen der öffentlichen Auslegung gemäß § 3 Abs. 2 BauGB nicht oder verspätet geltend gemacht hat, aber hätte geltend machen können.
Bis zur Neufassung der betroffenen Gesetze wirft dies die praxisrelevante Frage auf, ob die Behörden die entsprechenden Belehrungen über die Präklusionswirkungen überhaupt noch veröffentlichen dürfen, oder ob sie damit den gerichtlichen Rechtschutz einschränken. Ein völliges Absehen von der Belehrung über die Präklusionsvorschriften ist möglicherweise problematisch, weil sich aus dem EuGH-Urteil nur ergibt, dass die Präklusion bestimmter umweltbezogener Einwendungen europarechtswidrig ist. Daraus dürfte folgen, dass beispielweise die Präklusion rein eigentumsbezogener Einwendungen weiterhin zulässig ist. Dann muss die Behörde aber auch insoweit auf die Präklusionsvorschriften hinweisen, wie es das Gesetz anordnet. Will sie umweltbezogene Belange von der Belehrung ausnehmen, wirft dies erhebliche Formulierungsschwierigkeiten auf.
Bei der Neufassung der Gesetze könnte es aufgrund der aufgezeigten Formulierungsschwierigkeiten am einfachsten sein, die Präklusionsvorschriften völlig zu streichen (und damit die Vorgaben des EuGH übererfüllen). Rechtspolitisch wird zu berücksichtigen sein, dass Deutschland und Österreich die einzigen EU-Staaten sind, die über Präklusionsvorschriften verfügen. Freilich wird in diesem Zusammenhang zu beleuchten sein, auf welche Weise andere EU-Mitgliedstaaten die von den Präklusionsvorschriften verfolgten Ziele erreichen. Angesichts der aufgezeigten Schwierigkeiten für die Behörden insbesondere bei der Formulierung der Belehrung über die Präklusionsvorschriften bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber schnell und umfassend reagiert.