15.06.2016
Beitrag von Rechtsanwältin Katja Gnittke im Vergabenavigator 3/16
Der Betreiber eines Übertragungsnetzes für Strom, dessen Recht dem öffentlichen und transparenten Wettbewerb niemals ausgesetzt gewesen ist, nimmt ein besonderes oder ausschließliches Recht in Anspruch. Der Netzbetreiber ist daher als Sektorenauftraggeber anzusehen. Dies vertritt die Vergabekammer (VK) Lüneburg im Beschluss vom 30.9.2015 (VgK-30/2015). Demnach steht die dauerhaft lenkende und fördernde Duldung eines bestehenden Oligopols der staatlichen Gewährung durch Rechts- und Verwaltungsvorschrift inhaltlich gleich.
Die Vergabestelle ist Betreiberin eines Übertragungsnetzes, deren Anteile vollständig von einem EU-Mitgliedsstaat gehalten werden. Mit EU-weiter Bekanntmachung schrieb sie die Erstellung von Baugrundgutachten für ein 380-kv-Leitungsbauprojekt (Höchstspannungsleitungen) im Verhandlungsverfahren als Dienstleistungsauftrag gemäß Sektorenverordnung (SektVO) aus. Eine Bietergemeinschaft beanstandete zunächst im Wege der Rüge und nach der Zurückweisung der Rüge durch die Vergabestelle mit einem Nachprüfungsantrag verschiedene Verstöße gegen das Vergaberecht:
Die Auftraggeberin trug vor, der Nachprüfungsantrag sei unzulässig. Sie sei keine öffentliche Auftraggeberin, insbesondere keine Sektorenauftraggeberin im Sinne von § 98 Nr. 4 GWB.
Die zweite Alternative des § 98 Nr. 4 sei nicht erfüllt, da Auftraggeber, die unter § 98 Nr. 1 bis 3 fallen, auf die Auftraggeberin einzeln oder gemeinsam keinen beherrschenden Einfluss ausüben könnten.
kumulativ vorliegen müssten. Die durch das Energiewirtschaftgesetz (EnWG) verliehenen Möglichkeiten und Rechte zur Enteignung gemäß § 45 EnWG, Gebrauchsrechte am öffentlichen Wegenetz gemäß § 46 EnWG oder Wegenutzungsrechte oder das Genehmigungserfordernis nach § 4 EnWG begründen nach Auffassung der Auftraggeberin keine besonderen oder ausschließlichen Rechte im Sinne von § 98 Nr. 4 1. Alt. GWB.
Als Übertragungsnetzbetreiberin im Sinne von § 3 Nr. 10 EnWG erfülle sie Aufgaben, die ihr nicht durch gesonderten behördlichen Akt im Sinne von § 98 Nr. 4 GWB übertragen werden und die auch keine ausschließliche Wirkung haben. Grundsätzlich könnte jedermann, der die in § 3 Nr. 10 EnWG genannten Voraussetzungen erfüllt, Übertragungsnetzbetreiber sein.
Baugrunduntersuchungen seien gutachterliche Tätigkeiten und damit Dienstleistungen der Kategorie 12, Anhang 1 zur Sektorenverordnung.
Ein Verstoß gegen das Losteilungsgebot liege nicht vor, weil bei einer Losaufteilung ein erhöhtes Koordinierungs- und Schnittstellenrisiko bestehe.
Die Vergabekammer hält den Nachprüfungsantrag für zulässig aber unbegründet.
Öffentliche Auftraggeberin nach § 98 Nr. 2 GWB sei die Auftraggeberin nicht. Zwar werde sie von einem EU-Staat durch dessen 100%ige Beteiligung überwiegend finanziert. Sie sei jedoch nicht gegründet worden, um im spezifischen deutschen Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht gewerblicher Art zu erfüllen.
Nach Auffassung der Vergabekammer ist die Vergabestelle jedoch Sektorenauftraggeberin nach § 98 Nr. 4 2. Alt. GWB, weil eine Gebietskörperschaft auf sie einen beherrschenden Einfluss nehmen kann. Ein Mitgliedstaat der Europäischen Union sei eine Gebietskörperschaft im Sinne des § 98 Nr. 4 2. Alt. GWB. Gebietskörperschaften seien in der Richtlinie 2004/17/EG und Art. 3 der Richtlinie 2014/25/EU definiert durch das Gebiet, unabhängig vom Wechsel ihrer Mitglieder. Die Mitgliedschaft einer Person zu einer Gebietskörperschaft ergebe sich nicht durch freiwilligen Beitritt, sondern kraft Gesetz, hier dem Staatsangehörigkeitsrecht. Der Begriff der Gebietskörperschaften sei daher nicht auf deutsche Gebietskörperschaften zu beschränken. Ein nationales Verständnis sei bei der Anwendung einer europarechtlichen Norm nicht angezeigt.
Die Vergabekammer begnügt sich aber nicht mit der Feststellung der Sektorenauftraggebereigenschaft nach § 98 Nr. 4 2. Alt. GWB. Vielmehr enthält die Entscheidung weitreichende Ausführungen zur Auftraggebereigenschaft nach § 98 Nr. 4 1. Alt. GWB, deren Voraussetzung die Inanspruchnahme besonderer und ausschließlicher Rechte ist. Die Vergabekammer neigt im Ergebnis der Auffassung zu, die Auftraggeberin sei als Betreiberin eines Übertragungsnetzes öffentliche Sektorenauftragsgeberin im Sinne der ersten Alternative des § 98 Nr. 4 GWB.
Die Tätigkeit im Sektorenbereich muss nach der Regelung im GWB auf der Grundlage von besonderen oder ausschließlichen Rechten ausgeübt werden, die staatlich gewährt worden sind. Besondere oder ausschließliche Rechte führen dazu, dass die Ausübung dieser Tätigkeiten einem oder mehreren Unternehmen vorbehalten wird, und dass die Möglichkeit anderer Unternehmen, diese Tätigkeit auszuüben, erheblich beeinträchtigt wird.
Jedes Monopol oder Oligopol begründe zunächst ein besonderes oder ausschließliches Recht in diesem Sinne, so die Vergabekammer. Tatbestandlich sei nicht erforderlich, dass der Inhaber des Rechts in den Markt drängende Konkurrenten im Klagewege auf Unterlassung in Anspruch nehmen kann. Dies sei bei Oligopolen regelmäßig nicht denkbar.
Ein Oligopol des Rechtsvorgängers der Auftraggeberin hat die europäische Kommission in ihrer Entflechtungsentscheidung vom 26.01.2008 festgestellt, mit der sie die Vorgängerin der Auftraggeberin verpflichtet habe, ihr Netz zu veräußern. Aus der Entscheidung ergebe sich, dass die Auftraggeberin als Übertragungsnetzbetreiberin eine Monopolstellung im Bereich der Sekundärregelenergie gehabt habe:
An der weiteren Voraussetzung, nach der die besonderen oder ausschließlichen Rechte zusätzlich von einer zuständigen Behörde gewährt sein müssen, fehle es nur formal, hält die Vergabekammer fest.
Das vorgefundene Oligopol beruhe zwar nicht auf einer ausdrücklichen hoheitlichen Gewährung durch Rechts- oder Verwaltungsvorschrift. Insbesondere ergebe sich eine solche nicht aus dem EnWG. Die besonderen Befugnisse aus § 13 Abs. 2 EnWG setzen die Eigenschaft als Übertragungsnetzbetreiber voraus.
Der Begriff des Übertragungsnetzbetreibers sei bereits an eine bestehende gebietsbezogene tatsächliche Sachherrschaft gebunden, dabei handele es sich um eine Eigenschaft aufgrund faktischer Ausübung. Eine formale staatliche Gewährung ergebe sich auch nicht aus einer historischen Betrachtung.
Die Vergabekammer neigt aber der Ansicht zu, eine dauerhaft lenkende und fördernde Duldung eines bestehenden Oligopols stehe der staatlichen Gewährung durch Rechts- oder Verwaltungsvorschrift inhaltlich gleich.
Die Gewährung besonderer Rechte sei nicht auf hoheitliches Handeln beschränkt, sondern könne gleichermaßen durch vertragliches Handeln oder wirtschaftslenkende Maßnahmen erfolgen. Bei verschiedenen Netzwirtschaften gebe es nur jeweils ein hoheitliches oder privates Netz. Der Wettbewerb finde nicht zwischen parallel errichteten Netzen, sondern im Netz statt.
Auch wenn § 4 EnWG seit 1998 theoretisch jedem den Weg zum Netzbetrieb eröffne, habe diese rechtliche Möglichkeit angesichts der erheblichen Investitionserfordernisse und der anspruchsvollen Anforderungen sowie der festgefügten Netzbetreiberstrukturen nicht zu einer Marktöffnung geführt.
Nach der Richtlinie 2014/25/EU verlieren Monopole oder Oligopole ihre wettbewerbsbeschränkende Wirkung erst, wenn sie einmal dem Markt in einem öffentlichen und transparenten Verfahren zur Verfügung gestanden haben.
Eine Bereichsausnahme sei ebenfalls nicht gegeben, da die Anlage der Ableitung von EEG-Strom dienen soll. Die Entscheidung der Kommission vom 24.04.2012 (C-2426) betreffe lediglich die Erzeugung und den Großhandel konventionellen Stroms.
Die Vergabestelle war also zur Anwendung des für Sektorenauftraggeber geltenden Rechts verpflichtet. Allerdings erkennt die Vergabekammer keinen Verstoß gegen Vergaberecht, auf den sich die Antragstellerin berufen könnte, bei der Durchführung des Vergabeverfahrens.
Bezogen auf die zu beschaffende Leistung handelt es sich nach dem Beschluss der Vergabekammer um einen einer Bauleistung vorgelagerten Dienstleistungsauftrag. Sie stützt sich dabei vor allem auf die Einordnung der Ziffern des Common Procurement Vocabulary (CPV).
Einen eigenen Markt für Bohrleistungen, der ein Fachlosgebot rechtfertigen würde, erkennt die Vergabekammer nicht. Die Antragstellerin sei durch eine fehlende Losteilung auch nicht in ihren Rechten verletzt, weil sie als Bietergemeinschaft aus Ingenieurbüro und Bohrunternehmen ein Angebot abgegeben habe und daher in ihrer jetzigen Konstellation durchaus in der Lage sei, sich ohne Fachlosaufteilung um den zu vergebenden Auftrag aussichtsreich zu bewerben.
Für Sektorenaufraggeber in den Netzwirtschaften – vor allem solche Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht, die sich bislang nicht als Sektorenauftraggeber angesehen haben – dürfte die Entscheidung wesentliche Bedeutung haben. Es bleibt abzuwarten, ob andere Nachprüfungsinstanzen der Auffassung der VK Lüneburg folgen werden, wonach eine fördernde Duldung von Oligopolen für die Annahme einer Gewährung eines besonderen oder ausschließlichen Rechts ausreicht.
Die Entscheidung der VK Lüneburg nimmt die aktuelle Richtlinie 2014/25/EU in Bezug. Die Merkmale für eine Eigenschaft als Sektorenauftraggeber in § 100 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 GWB 2016 entsprechen inhaltlich denen des § 98 Nr. 4 GWB, die Gegenstand der Entscheidung waren. Die Neuregelung in § 100 Abs. 2 S. 2 GWB neue Fassung, nach der besondere oder ausschließliche Rechte nicht vorliegen, wenn sie aufgrund eines Vergabeverfahrens oder eines sonstigen Verfahrens, das angemessen bekannt gemacht wurde und auf objektiven Kriterien beruht, gewährt wurden, hat die Vergabekammer nach der zugrundeliegenden Richtlinienregelung bewertet. Die Entscheidung ist damit über den 18.4.2016 hinaus von Bedeutung.