Journal

02.10.2015

Beitrag von Rechtsanwältin Katja Gnittke im Vergabenavigator 5/15

 

OLG Celle: Verbindlichkeiten im Jahresabschluss nicht aussagekräftig.

Auch wenn der Jahresabschluss einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag ausweist, ist ein Bieter nicht unbedingt als ungeeignet anzusehen. Bei den Zuschlagskriterien und der Zuschlagsentscheidung muss der Auftraggeber für Gleichbehandlung und Transparenz Sorge tragen. Diese zwei praktisch relevanten Fragen hat das Oberlandesgericht (OLG) Celle im Beschluss vom 11.06.2015 (13 ZR 4/15) im Zusammenhang mit einem Vergabeverfahren für Rettungsdienstleistungen entschieden.

 

Der Sachverhalt:

Ein Landkreis schrieb Rettungsdienstleistungen im offenen Verfahren europaweit in vier Losen aus. Als Wertungskriterien waren der Preis (Gewichtung: 40%), und das Konzept für die Durchführung des Rettungsdienstes (Gewichtung: 60%), unterteilt in ein Ausschlusskriterium „Vorlage einer Personalbedarfsberechnung, die eine bedarfsgerechte Sicherstellung des Rettungsdienstes personell gewährleistet" und vier Unterkriterien, nämlich „Ausfallsicherheit Personal- und Sachmittel" (Anteil von 45% an Bewertung des Konzepts, und Anteil von 27% an Gesamtbewertung), „Effizienz der Hygieneschutzmaßnahmen" (mit einem Anteil der Bewertung des Konzepts von 25% und insgesamt von 15%) und „Effizienz der Material- und Medizinprodukteverwaltung" sowie „Effizienz des Melde- und Berichtswesens" (mit einem Anteil von je 15% an der Bewertung des Konzepts und je 9% an der Gesamtbewertung).

Die Wertung der Konzepte für jedes Unternehmen sollte sich danach richten, wie vollständig, fundiert, präzise und explizit der Leistungserbringer die im einzelnen Konzept an ihn gerichteten Anforderungen jeweils aufgreifen und überzeugend darstellen würde und wie sehr die beschriebene Vorgehensweise eine qualitätsvolle Leistungserbringung erwarten ließe. Für die Punktvergabe war eine Bewertungsskala von 1 bis 10 Punkten vorgesehen, die in Zweierschritten, also in fünf Stufen untergliedert war. Der Gesamtpreis war seinerseits in Bewertungspunkte umzurechnen.

Auf die Lose 3 und 4 gaben vier Bieter ein Angebot ab, darunter der spätere Beigeladene und die spätere Antragstellerin. Die Antragstellerin erhielt für den angebotenen Preis in beiden Losen 40 Preispunkte - die Höchstpunktzahl - und der Beigeladene in Los 3 35,93 und in Los 4 37,32 Preispunkte. Für ihr eingereichtes Konzept erhielt die Antragstellerin 36 Konzeptpunkte und 52,8 Wertungspunkte, was Rang 2 entsprach. Der Beigeladene erhielt 39 Konzeptpunkte und 57,3 Wertungspunkte. Der Beigeladene belegte nach der Ermittlung der Gesamtpunktzahl in beiden Losen auf dem ersten und die Antragstellerin auf dem zweiten Rang.

Nach der Vorabinformation nach § 101a des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) wandte sich die Antragstellerin gegen die beabsichtigte Vergabe mit einer Rüge. Der Auftraggeber half der Rüge jedoch nicht ab. Mit einem weiteren Schreiben beanstandete die Antragstellerin darüber hinaus folgende Gesichtspunkte: das Angebot des Beigeladenen hätte ausgeschlossen werden müssen, weil er nicht leistungsfähig sei, was sich aus den Jahresabschlüssen ergebe, die für das Jahr 2013 einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag ausweise. Der Beigeladene verfüge auch nicht über die notwendigen Referenzen, die Angebotswertung sei willkürlich in Bezug auf die Wertung der Konzeptpunkte „Ausfallsicherheit Personal- und Sachmittel" und „Effizienz des Melde- und Berichtswesens", schließlich sei die Angebotswertung durch einen befangenen Berater erfolgt. Die Mitarbeiter des Beigeladenen hätten an Seminaren der Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners teilgenommen. Der Antragsgegner wies sämtliche Rügen zurück. Darauf hin leitete die Antragstellerin ein Nachprüfungsverfahren ein. Die Vergabekammer wies den Nachprüfungsantrag zurück und sah ihn teils als unzulässig, teils als unbegründet an. Dagegen wandte sich die Antragstellerin mit der sofortigen Beschwerde.

 

Die Entscheidung:

Das OLG Celle hält die sofortige Beschwerde für unbegründet. Die Antragstellerin hat keinen Erfolg. Für die Rettungsdienstleistungen sind die VOL/A erster Abschnitt sowie § 8 EG VOL/A, § 15 EG Abs. 10 VOL/A und § 23 EG VOL/A anwendbar. Verstöße gegen das Vergaberecht liegen nach Überzeugung des OLG Celle nicht vor: Der Beigeladene sei nicht gemäß § 13 Abs. 5 VOL/A i.V.m. § 6 Abs. 2 VOL/A wegen mangelnder Eignung von der Wertung auszuschließen. Das OLG verweist hier auf den in der Beurteilung der Bieter bestehenden Ermessensspielraum des Auftraggebers.

Ermessensfehler stellt das OLG nicht fest. Der Antragsgegner habe die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zutreffend anhand der Angabe des Gesamtumsatzes im Angebot geprüft. Allein dass die im Bundesanzeiger veröffentlichten Jahresabschlüsse einen Fehlbetrag ausweisen, führe nicht dazu, den Beigeladenen als nicht finanziell leistungsfähig anzusehen. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, so das OLG Celle, dass der Beigeladene seine Verpflichtungen nicht erfüllen könne. Die Höhe der Verbindlichkeiten im Jahresabschluss sage über die finanzielle Leistungsfähigkeit eines Bieters nichts aus. Die Handelsbilanz lasse keine Aussage über die tatsächliche finanzielle Leistungsfähigkeit eines Unternehmens zu. Eine bilanzielle Überschuldung im Sinne von § 19 der Insolvenzordnung (InsO) lasse sich auf dieser Grundlage nicht feststellen. Der Bilanz lasse sich zum Beispiel nicht entnehmen, welchen Wert die im Anlagevermögen der Beigeladenen zu den Buchwerten aufgelisteten Sachanlagen tatsächlich haben. Selbst wenn eine Überschuldung vorliegen würde und ein Insolvenzverfahren eröffnet worden wäre, läge kein zwingender Ausschlussgrund vor, denn die Insolvenz indiziere eine mangelnde Eignung nicht automatisch.

Die gerügte fehlende Vorlage von Referenzen hat das OLG Celle als unproblematisch angesehen, weil die Beigeladene als Bestandsanbieter von der Vorlage von Referenzen befreit war. Auch die Rügen gegen die Konzeptbewertung hält das OLG für unbegründet. Der Antragsgegner habe ausschließlich auf Kriterien abgestellt, die in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen genannt waren. Bei der Bestimmung der Kriterien liege weder ein Beurteilungsfehler noch ein Ermessensfehlgebrauch vor. Eine Gewichtung der Kriterien Preis mit 40 % und Qualität mit 60 % sei im Grundsatz nicht zu beanstanden. Das Preiskriterium müsse nur angemessen bewertet werden. Der Antragsgegner könne der Qualität des Konzepts der Bieter als nicht preisliches Wirtschaftlichkeitskriterium mit Blick auf die von ihm zu erfüllende gesetzliche Aufgabe eine besondere Gewichtung messen. Eine Bekanntgabe und Ausdifferenzierung von Unterkriterien ist dann geboten, wenn die aufgestellten Wertungsmaßstäbe so unbestimmt sind, dass die Bieter nicht mehr angemessen über die Kriterien und Modalitäten informiert werden, auf deren Grundlage das wirtschaftlichste Angebot ermittelt wird.

Im konkreten Vergabeverfahren sei mit den Unterkriterien „Ausfallsicherheit, Personal- und Sachmittel", „Effizienz der Hygieneschutzmaßnahmen", „Effizienz der Material- und Medizinprodukteverwaltung" und „Effizienz des Melde- und Berichtswesens" das Qualitätskriterium hinreichend genau beschrieben. Die Bieter hätten gewusst, dass es auf eine vollständige und präzise Darstellung der Konzepte zu den jeweiligen Unterkriterien entscheidend ankommen würde. Die Ausübung des Beurteilungsspielraums sei durch die Vergabenachprüfüngsinstanzen nur eingeschränkt überprüfbar, hält das Gericht fest. Hier sei weder ersichtlich, dass der Antragsgegner den Sachverhalt falsch ermittelt habe, noch gäbe es Hinweise für eine willkürliche Angebotsbewertung insbesondere eine ungerechtfertigte Bevorzugung der Beigeladenen und eine abwertende Tendenz gegenüber dem Angebot der Antragstellerin. Im Vergabevermerk sei eine tabellarische Auflistung der auf jeden Bieter entfallenden positiven und negativen Aspekte enthalten. Ein geringer Punkteabstand lege keine willkürliche Bewertung der Konzepte nahe. Die Grenzen des Beurteilungsspielraums seien umso eher erreicht, desto mehr die Überprüfung von deutlichen Fehlwertungen im Vordergrund steht, was insbesondere dann nahe liege, wenn das Angebot des Bieters mit der schlechtesten Note bewertet wurde. Hat das Angebot des Bieters hingegen nach der vorliegenden Wertung einen vergleichsweise „guten" Platz belegt und macht er gleichwohl geltend, die Bestnote oder - wie hier - die Eingruppierung in die beste Bewertungskategorie sei die einzige Bewertung, sind der Überprüfung der Wertungsentscheidung durch die Nachprüfüngsinstanzen enge Grenzen gesetzt. Die gebotene individuelle Bewertung führe zwangsläufig dazu, dass unterschiedliche Gesichtspunke einfließen, weil die Konzepte unterschiedlich aufgestellt sind. Eine mathematische Genauigkeit sei nicht möglich. Auftraggebern könne ferner nicht abverlangt werden, auf jede Einzelheit der umfangreichen Konzepte einzugehen, so das OLG Celle. Gerade wenn es darum gehe, ob die Höchstpunktzahl oder eine noch gute Bewertung vergeben wird, liege es nahe, (nur) auf diejenigen Umstände einzugehen, die letztlich zu einem Punktabzug geführt haben. Eine zusammenfassende, auf die tragenden Gründe beschränkte Darstellung genüge. Eine Begründung für den Punktabzug damit, dass das Konzept an einigen Stellen zu oberflächlich und zu allgemein gehalten und ein konkreter Bezug zum Landkreis nicht erkennbar gewesen sei, sei in Ordnung. Die Bewertung vollzog das OLG anhand der Angebote und des Vergabevermerkes nach.

Nach Auffassung des OLG liegt auch keine Mitwirkung eines befangenen Beraters im Sinne von § 16 Abs. 1 Nr. 2 der Vergabeverordnung (VgV) vor. Die das Vergabeverfahren begleitenden Rechtsanwälte haben nicht einen Bieter im Vergabeverfahren beraten. Eine beratende oder unterstützende Tätigkeit ergebe sich nicht daraus, dass der Rechtsanwalt eine Reihe von Schulungsveranstaltungen durchgeführt hat bzw. durchführen wird, an denen Mitarbeiter der Beigeladenen teilgenommen haben oder teilnehmen können. Eine besondere Beziehung folge daraus nicht. Auch der Umstand, dass die Rechtsanwälte eine größere Anzahl von Ausschreibungen im Bereich von Rettungsdienstleistungen begleitet und in der überwiegenden Zahl der Fälle Organisationen einer bestimmten Gruppe den Zuschlag erhalten haben, zeige keine Voreingenommenheit. Eine solche lasse sich auch nicht aus einer Übereinstimmung im Ablauf verschiedener begleiteter Vergabeverfahren herleiten. Die Dokumentation des Vergabeverfahrens ist nach Auffassung des OLG ordnungsgemäß erfolgt, auch wenn sie nicht paginiert gewesen sei. Es sei nicht ersichtlich, dass die Vergabedokumentation durch fortlaufende Seitenzahlen belegt sein muss. Allein wesentlich sei die chronologische Niederlegung der wesentlichen Schritte und Entscheidungen.

 


Praxishinweis:

Die Entscheidung des OLG Celle betrifft zwei klassische Fragen in Vergabeverfahren. Zum einen die Bewertung der Eignung und zum anderen die Zuschlagsentscheidung. Bei beiden im Vergabeverfahren wesentlichen Entscheidungen erkennt das OLG Celle zwar einen Ermessens- und Beurteilungsspielraum des Auftraggebers an, überprüft die Entscheidungen aber weitgehend. Solange der Auftraggeber transparent sachgerechte Gesichtspunkte berücksichtigt und diese dokumentiert, kann ein nichtberücksichtigter Bieter nichts gegen die Angebotswertung einwenden. Die Chancen eines Bieters, ein Vergabeverfahren erfolgreich mit der Begründung anzugreifen, nur die beste Bewertung bei einem Bewertungskriterium sei für sein Angebot sachgerecht, sind ohnehin äußerst gering. Der Auftraggeber bewegt sich auf der vergaberechtssicheren Seite, wenn er die maßgeblichen Gesichtspunkte des Angebotes in die Dokumentation der Bewertung aufnimmt und auch bei nicht-erstplatzierten Bietern positive Gesichtspunkte erkennt. Eine gute Bewertung gibt weniger Anlass zu einer Prüfung, auch wenn nur ein geringer Abstand zum erstplatzierten Bieter gegeben ist, als eine auffallend schlechte Bewertung.